Interview mit Nicole Koller

Der Radsport wird gleichberechtigter: Das zeigt nicht zuletzt der Dreifachsieg der Schweizer Mountainbikerinnen an den Olympischen Spielen in Tokio. Dabei galt Biken auch hierzulande lange als Männerdomäne. Eigentlich erstaunlich, denn das Velo war schon immer eng mit der Geschichte der Gleichberechtigung verbunden. So sagte die US-amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony vor mehr als 100 Jahren: «Ich glaube das Fahrradfahren hat mehr für die Emanzipation der Frauen getan als alles andere. Es gibt Frauen ein Gefühl der Freiheit und der Selbstbestimmtheit.»
Die Bikerin Nicole Koller (24) holte 2014 Gold an der Junioren-Weltmeisterschaft und fährt heute im Ghost Factory Racing Team. Anlässlich des Internationalen Frauentags spricht sie über Gleichberechtigung im Bikesport sowie über den Weg aus der Magersucht.
Im Breitensport ist Biken eher eine männerdominierte Sportart. Wie bist du auf den Trail gekommen?
Durch meine älteren Brüder. Wegen den beiden wurde das Biken zum Sport der ganzen Familie. Zu Beginn fand ich es aber nicht so toll, weil ich als Jüngste natürlich immer die Schwächste war.
Wurde dir irgendwann bewusst, dass Frauen auf dem Bike in der Minderheit sind?
Eigentlich nicht. Unser Veloklub war relativ gross. So hatte ich immer einige Mädchen um mich herum. Zudem hat es in meiner Generation viel mehr Bikerinnen als in früheren Altersgruppen.

Warum hast du dich fürs Biken entschieden?
Das Umfeld gefiel mir besser. Und wahrscheinlich habe ich auch gespürt, dass ich mehr Talent fürs Biken habe als für das Rhythmische und Tänzerische.
Ist beim Biken nicht auch der Spassfaktor etwas höher?
Schon. Aber es war auch eine zwiespältige Situation, weil mein Vater die Gruppe geleitet hat. Das findet man als Teenager nicht so toll.
Wann hast du entschieden, auf die Profikarte zu setzen?
Ich war früher sehr vielseitig. Geräteturnen und Leichtathletik mochte ich auch. Irgendwann überschnitten sich die Trainingszeiten zu sehr und ich musste mich entscheiden. Profi zu werden, habe ich aber erst während der Ausbildung ins Auge gefasst.
Welche Herausforderungen gab es für dich auf dem Weg zum Profi?
Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ich nicht zu früh auf die Profikarriere setze. Darum habe ich eine KV-Lehre mit Berufsmatur gemacht. Zusammen mit dem Sport war das heftig.
Gab es für dich spezielle Hürden als Frau?
Eigentlich nicht. Es gelten dieselben Auswahlkriterien. Vielleicht ist es sogar so, dass es als Frau etwas einfacher ist, weil die Konkurrenz etwas weniger stark ist als bei den Männern. Darum ist es einfacher in einen Leistungspool aufgenommen zu werden, aber man muss dann trotzdem beweisen, dass man da auch wirklich hingehört.

In vielen Sportarten werden Frauen nicht gleich wahrgenommen wie Männer. Wie ist das im Bikesport?
Beim Biken ist der Unterschied weniger gross. Aber das Fahrerfeld und die Fangemeinde ist bei den Männern schon noch etwas dichter. Das widerspiegelt sich im Lohn und in den Verträgen mit den Sponsoren.
Trainierst und isst du gleich wie deine männlichen Kollegen?
Grundsätzlich schon, wobei der Trainingsumfang bei uns Frauen sicher etwas reduzierter ist. Und bezüglich des Essens habe ich inzwischen die Einstellung: Wieso sollte ich als Athletin etwas nicht essen, wenn es andere auch essen dürfen, schliesslich trainiere ich bis zu 20 Stunden wöchentlich– wer, wenn nicht ich, sollte sich etwas gönnen dürfen!
Das war nicht immer so. Als du 2014 Weltmeisterin bei den Junioren wurdest, hast du eine Essstörung entwickelt. Wie bist du da reingeraten?
Das hat im letzten Schuljahr begonnen. Ich fühlte mich nicht mehr wohl in meinem Körper. Dazu kam noch die Trennung von meinem damaligen Freund und die anspruchsvolle Umstellung von der Schule zu Lehre. Das war einfach zu viel.
Es ging also gar nicht darum, möglichst keinen Gramm Fett am Körper zu haben, um schneller den Berg hochzukommen?
Angefangen hat es klar mit Schönheitsidealen, aber ich wurde durchs Abnehmen auch schneller. Irgendwann war ich überzeugt, dass meine Leistung vom Gewicht abhängig ist.
Im Video von oben hast du gesagt, dass du damals nicht darüber sprechen konntest. Warum ging das nicht?
Ich hatte das Gefühl, die Leute reden schlecht über mich und mein Gewicht, weil sie mir den Erfolg nicht gönnen. Zudem war mein Essverhalten sowas von nicht mehr gesellschaftsfähig. Darum habe ich mich komplett zurückgezogen. Die Waage wurde zu meinem besten Freund.
Welches sind die ersten Anzeichen einer Essstörung?
Wenn man beginnt, sich und andere zu belügen. Oder wenn man sich total zurückzieht. Dann sollten die Alarmglocken klingen.
Wann kam die Wende?
Ende 2015 bin ich an meinem tiefsten Punkt angekommen. Manchmal, wenn mich niemand kontrollieren konnte, habe ich zwei Tage nichts gegessen. Ich wog noch knapp 48 Kilogramm bei einer Grösse von 1.70 Metern.

Wie hast du da wieder rausgefunden?
Meine Familie hat ziemlich krass eingegriffen. Es gab vorher schon eineinhalb Jahre Diskussionen am Esstisch. Aber 2015 haben meine Eltern und meine Geschwister gemeinsam die Notbremse gezogen. Sie haben mir eine Pause verordnet und mir alle Velos weggenommen. Der Deal war, dass ich sie erst zurückerhalte, wenn ich mindestens wieder 53 Kilo auf die Waage bringe. Ich durfte dann unter Kontrolle schon etwas früher wieder aufs Bike, weil es mir damit psychisch einfach besser ging.
Welche Tipps hast du für Mädchen, die in einer ähnlichen Situation stecken?
Holt euch Hilfe. Und zwar möglichst früh. Ich habe mich lange gesträubt, psychologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Ich dachte, ich müsse das komplett mit mir selbst regeln. Aber ist das Selbstbild mal derart verzerrt, ist der Weg zur Normalität sehr schwierig.
Gut zu wissen
Was ist eine Essstörung? Von einer Essstörung spricht man, wenn jemand nicht nach seinen körperlichen Bedürfnissen isst. Kennzeichnend sind u. a. das Ablehnen des eigenen Körpers, ständiges Grübeln über Gewicht und Essen, und selbstauferlegte Essregeln. Das kontrollierte Essverhalten kann in Momente oder Phasen ungeregelter Nahrungsaufnahme umkippen und mit einem Gefühl von Kontrollverlust einhergehen. Zu Essstörungen gehören Anorexie, Bulimie, Binge Eating, Orthorexie oder Adipositas.
Hast du oder hat jemand, den du kennst, Essprobleme oder Essstörungen? Zögere nicht, Hilfe zu suchen!
Hier findest du Informationen und Unterstützung: